Ein Zeichen von Einheit und Stärke sollte vom Gipfel der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) ausgehen. Das machten verschiedene Vertreter der am Dienstag in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires zusammengekommenen insgesamt 33 Mitgliedsländer deutlich. Als Gastgeber forderte der Präsident Argentiniens, Alberto Fernández, in seiner Eröffnungsrede zum siebten CELAC-Gipfeltreffen, die Mitglieder des Bündnisses müssten »vereint« in ihrem Streben nach Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit zusammenarbeiten.
»Der Moment ist gekommen, die Karibik und Lateinamerika zu einer geeinten Region zu machen, die dieselben Interessen zugunsten des Fortschritts unserer Völker vertritt«, so Fernández weiter. Nur mit der »Rückkehr Brasiliens« in eine jetzt wieder »vollständige CELAC« sei die Möglichkeit gegeben, »das Gebot, das uns auferlegt wurde«, zu erreichen. Zu seinem Amtsantritt am 1. Januar hatte der Linkspolitiker Luiz Inácio Lula da Silva die Mitgliedschaft Brasiliens im Regionalbündnis reaktiviert. Sein faschistischer Vorgänger Jair Bolsonaro hatte sie 2020 auf Eis gelegt. Zur Begründung führte er damals die Mitarbeit »totalitärer Regime« an, womit er die Regierungen Kubas, Venezuelas und Nicaraguas meinte.
Das Bündnis, das alle Staaten des amerikanischen Doppelkontinents – mit Ausnahme der USA und Kanadas – vereint, wurde 2011 in der venezolanischen Hauptstadt Caracas gegründet und repräsentiert eine Gesamtbevölkerung von mehr als 600 Millionen Menschen. Es gilt als Gegengewicht zur von Washington dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die von Kuba und Venezuela boykottiert wird. In den vergangenen Jahren hatte CELAC eher an internationalem Gewicht verloren, erst mit der Übernahme des Vorsitzes durch Mexiko 2022 leitete dessen Präsident Andrés Manuel López Obrador einen Wiederbelebungsprozess ein.
Während Lula am Dienstag betonte, Brasilien sei »bereit, Seite an Seite mit Ihnen allen zu arbeiten, im Sinne eines sehr starken Gefühls der Solidarität und Nähe«, blieben andere Staatschefs dem Gipfeltreffen fern und entsandten Vertreter. Besonders die Abwesenheit von López Obrador wog angesichts der Bedeutung seines Landes für die Region schwer. Auch Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega fehlte in Argentinien ebenso wie sein venezolanischer Amtskollege Nicolás Maduro. Letzterer hatte die Reise nach Buenos Aires nur einen Tag vor Gipfelbeginn abgesagt. Als Grund nannte die Regierung in Caracas Sicherheitsbedenken. Ultrarechte Gruppierungen hatten zuvor zu Protesten und Störaktionen gegen Maduro aufgerufen. Zudem haben die Vereinigten Staaten weiterhin ein Kopfgeld auf den Präsidenten in Höhe von 15 Millionen US-Dollar ausgesetzt.
Per Videoschaltung rief Maduro die weiteren CELAC-Staaten am Dienstag dazu auf, »mit einer einzigen Stimme« jegliche Einmischungsversuche aus dem Ausland zu verurteilen. Es sei »an der Zeit, sich von innen heraus weiterzuentwickeln, mit einer klaren Vision von der Zukunft unserer Länder und der Notwendigkeit, ein solides Fundament für den Aufbau des Bündnisses zu legen«. Dem schlossen sich andere Staats- und Regierungschefs an. So betonte der kubanische Präsident Miguel Díaz-Canel die Bedeutung der Einheit sowie einer gemeinsamen Strategie für die »wirtschaftliche, soziale und kulturelle Integration, die es uns ermöglichen wird, eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen«.
Seit ihrer Gründung setzt die CELAC auf das Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten. So heißt es in der »Erklärung von Caracas« von 2011, jede Nation habe das Recht, »frei und in Frieden ihr eigenes politisches und wirtschaftliches System aufzubauen«. Auch am Dienstag betonten mehrere Staatschefs die Notwendigkeit einer eigenständigen Entwicklung der Region. So erklärte Lula in seiner Rede: »Die Region leistet einen klaren Beitrag zum Aufbau einer friedlichen Weltordnung, die auf dem Dialog, der Stärkung des Multilateralismus und dem kollektiven Aufbau der Multipolarität beruht.« Das sei gerade im Angesicht multipler globaler Krisen vonnöten. Sein bolivianischer Amtskollege Luis Arce bekräftigte die Forderung, dass die CELAC »der Raum und das Instrument für den Aufbau einer neuen Art der emanzipatorischen, multidimensionalen und nicht untergeordneten Integration« sein müsse.
Dem ist die Staatengemeinschaft mit ihrem Gipfel in Buenos Aires ein Stück nähergekommen. Für das nächste Jahr kommt die Weiterarbeit an dieser Aufgabe dem Regierungschef des Karibikstaats St. Vincent und der Grenadinen, Ralph Gonsalves, zu. Er wurde am Dienstag einstimmig zum Vorsitzenden der CELAC gewählt.
Am 10. Dezember 2022 tagte in Kassel der Bundesweite Friedensratschlag. Wir dokumentieren im folgenden in gekürzter Fassung den Redebeitrag Joachim Guilliards über Wirtschaftsblockaden. (jW) Die Langfassung der Rede kann unter kurzelinks.de/Blockaden abgerufen werden.
Das Thema wurde in den letzten Monaten immer brisanter: Angesichts der Mehrfachkrise – Krieg, Energiekrise, Inflation – und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen nehmen zwar auch hierzulande Protestaktionen zu. In der Linken scheiden sich dabei aber die Geister in der Frage, ob auch die Wirtschaftsblockaden gegen Russland thematisiert werden sollen oder dürfen.
Sie finden in Deutschland wie anderen europäischen Ländern weiterhin viel Zuspruch. Einer Forsa-Umfrage im Oktober zufolge glaubt zwar eine Mehrheit der Deutschen (57 Prozent der Befragten), dass die gegen Russland verhängten Embargomaßnahmen Deutschland mehr schaden als Russland. Dennoch spricht sich nur eine Minderheit von 30 Prozent für eine Lockerung (18 Prozent) oder eine völlige Aufhebung (zwölf Prozent) aus.
Angesichts der Stimmungsmache in den Medien ist dies wenig verwunderlich, wird Kritik an den Wirtschaftsblockaden doch genauso als Verrat am gemeinsamen Kampf gegen Russland oder gar als Parteinahme für Moskau diffamiert wie Kritik an Waffenlieferungen. Die Frage, ob mit den Embargomaßnahmen das Ziel überhaupt erreicht werden kann und ob die humanitären Kosten und wirtschaftlichen Schäden zu rechtfertigen sind, wird gar nicht erst gestellt.
»Recht des Stärkeren«
Embargomaßnahmen auch gegen andere Länder sind sehr umstritten. Daher muss die generelle Problematik von umfassenden Wirtschaftssanktionen erfasst werden. In erster Linie geht es um die Wirtschaftssanktionen, die eigenmächtig von einem oder mehreren Staaten gegen einen anderen Staat verhängt werden, ohne von diesem angegriffen oder auf andere Weise geschädigt worden zu sein, es sich also völkerrechtlich nicht um eine »Gegenmaßnahme« handelt.¹ In diesen Fällen ist der Begriff »Sanktionen« allerdings irreführend. Denn nichts und niemand gibt einem Staat wie den USA oder einem Staatenbündnis wie der EU in solchen Fällen das Recht, selbstherrlich Strafmaßnahmen zu verhängen. Dazu ist allein der UN-Sicherheitsrat legitimiert. In UN-Dokumenten werden sie daher als »unilaterale Zwangsmaßnahmen« bezeichnet.
Es gibt auf internationaler Ebene viele verschiedene Arten solcher Zwangsmaßnahmen – gegen gegnerische Staaten als Ganzes oder gegen einzelne Personen, Einrichtungen oder Firmen solcher Staaten. Ich werde mich im folgenden auf erhebliche, umfassende Handels-, Finanz- und Wirtschaftsblockaden konzentrieren, die sich gegen zentrale Wirtschaftsbereiche des betroffenen Landes richten.
Häufig werden die von westlichen Staaten verhängten Zwangsmaßnahmen damit begründet, Menschenrechte in den betroffenen Ländern verteidigen oder durchsetzen oder, wie im Fall des russischen Einmarschs in die Ukraine, Völkerrechtsverstöße bestrafen zu wollen. Tatsächlich verstoßen eigenmächtige Zwangsmaßnahmen jedoch meist selbst gegen internationales Recht und Menschenrechte.
Praktisch können sie nur von wirtschaftlich starken, wenn nicht dominierenden Mächten oder Bündnissen verhängt werden. Daher ist ihr Einsatz auch entsprechend selektiv. Tatsächlich werden sie auch fast ausschließlich von den USA und ihren Verbündeten verhängt – und das in wachsendem Maße. Solche Mächte können sich gleichzeitig sicher sein, dass sie selbst nie Ziel solcher Maßnahmen werden, selbst nicht bei schlimmsten eigenen Verbrechen wie den Kriegen gegen Jugoslawien, Irak oder Libyen.
Daher fördern sie keineswegs die »Stärke des Rechts«, wie u. a. führende Grüne hierzulande gerne ins Feld führen, sondern setzen auch in solchen Fällen bloß das »Recht des Stärkeren« durch. Selbst in Fällen, in denen uns die Gründe berechtigt erscheinen, sind es letztlich doch Akte der Willkür.
Hinzu kommt, dass die vorgebrachten Gründe meist mehr als zweifelhaft sind und vor Doppelmoral nur so strotzen. Bei genauerem Hinsehen werden die Blockaden offensichtlich vorwiegend in Verfolgung eigener Interessen verhängt – ausnahmslos gegen Länder, die als Gegner oder Rivalen angesehen werden bzw. die den eigenen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen im Wege stehen. Auf der anderen Seite haben andere Staaten wie die Türkei oder Saudi-Arabien trotz ihrer Kriege und Menschenrechtsverletzungen keine umfassenden Blockaden zu befürchten, sondern bleiben enge Verbündete.
Die USA haben mittlerweile – allein oder zusammen mit den EU-Staaten – gegen rund 40 Länder solche eigenmächtigen Maßnahmen verhängt – faktisch gegen ein Drittel der Menschheit. Einige, wie die Wirtschaftsblockaden gegen Kuba, Iran, Venezuela, Nordkorea und Russland, sind allgemein bekannt. Die verheerenden Folgen der Blockaden gegen bereits völlig verarmte Länder wie Nicaragua, Mali, Simbabwe oder Laos hat jedoch kaum jemand auf dem Schirm.
Versorgungsmängel programmiert
Natürlich wird von westlicher Seite stets beteuert, dass ihre Maßnahmen sich allein gegen die jeweilige Regierung bzw. das jeweilige Regime richten würden. Doch selbst wenn dies tatsächlich der Fall wäre, liegt es auf der Hand, dass sie, sobald sie effektiv sind, das heißt den Handel und die Wirtschaft wirksam einschränken, stets in erster Linie die Bevölkerung treffen, vor allem deren ärmere, verletzlichsten Teile.
Kritik wegen der schädlichen Auswirkungen auf die betroffenen Menschen wird meist mit dem Hinweis zurückgewiesen, humanitäre Güter wie Nahrung und Medizin seien doch von den Blockaden ausgenommen. Das ist zwar formal richtig, in der Sache aber eine bewusste Irreführung. Tatsächlich sind Versorgungsengpässe bei umfassenden Blockaden, sobald sie wirken, stets programmiert. Handelsblockaden behindern zwangsläufig jeglichen Import und verteuern ihn. Gleichzeitig verlieren die Länder durch Wegfall ihrer Exporte auch die zum Einkauf nötigen Devisen.
Wenn betroffene Länder zusätzlich auch vom internationalen Zahlungsverkehr und vom Kreditwesen ausgeschlossen werden, können sie nicht auf übliche Weise bezahlen, auch Transportmöglichkeiten brechen weg. All dies und die Sorge, unversehens gegen eine unbekannte Bestimmung im undurchsichtigen Geflecht der Embargoregeln zu verstoßen, lassen Lieferanten abspringen oder drastische Preisaufschläge fordern.
In der Regel fallen auch immer sogenannte Dual-Use-Güter unter die Blockadebestimmungen, also Güter, die zivil und militärisch genutzt werden können. Da es eine sehr große Bandbreite von Produkten gibt, die unter Umständen auch militärisch genutzt werden können, wird dadurch die Eigenproduktion stark beeinträchtigt – von Maschinen und Ersatzteilen bis hin zu Pflanzendünger, Desinfektionsmitteln und Medikamenten.
Die heutigen Gesellschaften beruhen auf einem komplexen Netz unentbehrlicher Infrastruktur. Wenn zum Beispiel aus Mangel an Ersatzteilen immer mehr Pumpen ausfallen, kann gebietsweise die Trinkwasserversorgung zusammenbrechen oder können – durch Ausfall des Abwassersystems – ganze Stadtteile im Sumpf versinken und sich Cholera- und Typhusseuchen ausbreiten. Erhalten Bauern nicht mehr genug Saatgut und Dünger, bricht auch noch der Selbstversorgungsanteil an Lebensmitteln zusammen.
Wenn mehrere solche Faktoren zusammenwirken, entstehen schnell lebensbedrohliche Notlagen. Richtig mörderisch wird es, wenn die USA ihre dominierende Stellung in Wirtschaft und Finanzwesen zu nutzen suchen, um Gegner durch vollständige Blockaden völlig zu strangulieren, indem sie Drittländer durch Androhung von sogenannten sekundären oder extraterritorialen Sanktionen zwingen, sich den Embargomaßnahmen anzuschließen.²
Da eine solche Ausweitung des Erpressungsregimes das Risiko von Banken, Reedereien, Industrieunternehmen etc., unversehens in dessen Mühlen zu geraten, noch mal enorm verschärft, führt dies auch zu schweren Engpässen dort, wo die blockierenden Mächte Ausnahmen aus humanitären Gründen explizit eingeräumt haben. Dieses Problem der »Übererfüllung« von Zwangsmaßnahmen erschwert durch seine unkontrollierte Streuwirkung vor allem auch die Arbeit von Hilfsorganisationen vor Ort ganz erheblich.
Der »stille Tod«
Andauernde Wirtschaftskriege können auf diese Weise mehr Opfer fordern als militärische. So kostete das umfassende Embargo gegen den Irak von 1990 bis 2003 mehr als eine Million Iraker das Leben, darunter ca. 500.000 Kinder.³ Dass solche Todesopfer offenbar einkalkuliert sind, belegt das berühmt-berüchtigte »Ja« der damaligen Außenministerin der USA, Madeleine Albright, als sie gefragt wurde, ob diese 500.000 toten Kinder »den Preis wert waren« – den Preis dafür, die unbotmäßige einstige Regionalmacht am Boden zu halten.
Die aktuellen Handels- und Finanzblockaden gegen Länder wie Syrien, Venezuela oder Kuba wirken sicherlich nicht so verheerend wie das Irak-Embargo. Doch töten ohne Zweifel auch sie. So forderten die US- und EU-Sanktionen gegen Venezuela nach Schätzungen des Washingtoner Forschungsinstituts Centre for Economic and Policy Research (CEPR) bereits zwischen 2017 und 2018 ca. 40.000 Menschenleben.⁴ Die Situation hat sich nach dem jüngsten Bericht von Alena Douhan, der aktuellen UN-Sonderberichterstatterin über negative Folgen eigenmächtiger Zwangsmaßnahmen, noch verschlechtert.
Selbst in einem Land wie dem Iran, der die Lage noch recht gut im Griff hat, führen die von Trump wieder verschärften Blockademaßnahmen zu beträchtlichen Versorgungsengpässen. So können mangels der dafür notwendigen spezifischen und teuren Medikamente diverse lebensrettende Therapien nicht weiter durchgeführt werden. Früher stellte das Land 95 Prozent seiner Medikamente selbst her. Es mangelt aber zusehends an den nötigen hochwertigen Rohstoffen, Technologien und Ersatzteilen. Für viele Patienten sind die Sanktionen, wie die renommierte US-Zeitschrift Foreign Policy schon 2019 berichtete, tödlich.⁵
Kuba, das seit mehr als 60 Jahren mit einer Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der USA konfrontiert ist, hat deswegen immer wieder mit schweren Versorgungsengpässen zu kämpfen. Das kubanische Gesellschaftssystem sorgt zwar dafür, dass niemand hungert, das Land wird aber durch das Embargo erheblich in seiner Entwicklung gehemmt, insbesondere da sich aufgrund der Androhung »extraterritorialer Sanktionen« auch Unternehmen aus der EU und anderen Staaten der Blockadepolitik unterwerfen.
Die Situation in Syrien ist noch dramatischer. Schon im Mai 2019 berichtete der damalige UN-Sonderberichterstatter, Idriss Jazairy, dass die Auswirkungen der Wirtschaftsblockaden der USA und der EU auf die Bevölkerung in den vergangenen Jahren verheerender wirkten als die des Krieges. Ihre Opfer würden nun »einen stillen Tod« sterben.⁶ Seine Nachfolgerin, Alena Douhan, hat nach ihrer Syrien-Reise Anfang November erneut dringend die Aufhebung der Sanktionen gefordert. Sie hätten eine vernichtende Wirkung auf die syrische Zivilbevölkerung und verhinderten nach elf Jahren Krieg den Wiederaufbau des Landes und damit auch die Rückkehr von Millionen Flüchtlingen.⁷
»Mittelalterliche Belagerungen«
Die schädlichen Auswirkungen auf die Bevölkerungen der angegriffenen Länder sind aber keineswegs nur ein unerwünschter Nebeneffekt, sondern gehören – entgegen allen Beteuerungen – zum Kalkül. Schließlich soll durch die negativen Auswirkungen auf die Bürger des betroffenen Landes öffentlicher Druck auf die Regierung aufbaut werden, den Forderungen der blockierenden Mächte nachzugeben.
Gary Hufbauer, einer der führenden US-amerikanischen Experten für Sanktionen, vergleicht ihre Wirkung mit Flächenbombardements, die sehr viele Menschen treffen, aber keinerlei Einfluss auf die Politik ihres Landes haben.⁸
Oft, wie im Falle Kubas, Syriens, Irans oder Venezuelas, werden mit ihnen auch offen »Regime-Changes« angestrebt, indem versucht wird, die Bevölkerung durch eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen zum Aufstand zu nötigen. Alle Bürger der betroffenen Länder werden so als Geiseln genommen.
Dies stößt seit langem auf vernichtende Kritik von Menschen- und Völkerrechtlern. So konstatierte der belgische Völkerrechtler Marc Bossuyt bereits im August 2000 in einem Gutachten für die UN-Menschenrechtskommission: »Die ›Theorie‹ hinter Wirtschaftssanktionen ist, dass ökonomischer Druck auf die Zivilbevölkerung in Druck auf die Regierung übersetzt wird, ihre Politik zu ändern. Diese Theorie ist bankrott, sowohl rechtlich wie praktisch.«⁹
»Praktisch bankrott« ist diese Theorie nicht nur aufgrund ihrer schädlichen humanitären Auswirkungen, sondern auch weil Wirtschaftssanktionen bisher kaum positive Erfolge brachten. Wie eine größere Zahl von Studien belegt, zeigten umfassenden Zwangsmaßnahmen generell meist wenig Wirkung. Noch nie konnten sie einen Krieg beenden, und nur selten konnten sie auch, wie eigentlich zumindest inoffiziell angestrebt, die Bevölkerung zu einer erfolgreichen Revolte gegen ihre Machthaber anstacheln und gegnerische Regierungen zu Fall bringen.
Statt dessen haben, so Wissenschaftler, die solchen Zielen durchaus positiv gegenüberstehen, Wirtschaftssanktionen die Position der herrschenden Eliten eher gefestigt als geschwächt, da der Angriff von außen die Mehrheit der Bevölkerung dazu veranlasste, enger mit der politischen Führung zusammenzurücken (»Rally-’round-the-Flag-Effect«). Gleichzeitig erhöht sich zwangsweise der Druck auf oppositionelle Kräfte, die leicht der Subversion und Unterstützung des Feindes beschuldigt werden können. Statt, wie offiziell oft behauptet, durch Sanktionen eine Demokratisierung zu erzwingen, schränken sie die Möglichkeiten fortschrittlicher Kräfte, demokratische oder soziale Verbesserungen durchzusetzen, drastisch ein – in einer belagerten Burg gedeiht keine Demokratie.
Der einstige Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates für Lateinamerika, Alfred De Zayas, brachte die grundsätzliche Problematik der vom Westen betriebenen Sanktionspolitik sehr gut auf den Punkt: Grundsätzlich seien Wirtschaftssanktionen vergleichbar mit »mittelalterlichen Belagerungen von Städten«, die zur Kapitulation gezwungen werden sollten. »Die Sanktionen des 21. Jahrhunderts versuchen aber nicht nur eine Stadt, sondern souveräne Länder in die Knie zu zwingen.« Im Unterschied zum Mittelalter würden die Blockaden des 21. Jahrhunderts »von der Manipulation der öffentlichen Meinung durch ›Fake News‹, einer aggressiven PR-Arbeit sowie einer Pseudomenschenrechtsrhetorik begleitet werden, um den Eindruck zu erwecken, dass das ›Ziel‹ der Menschenrechte kriminelle Mittel rechtfertigt«.¹⁰
Wirtschaftskriege werden von US-Politkern auch offen als günstigere Alternative zu militärischen Interventionen gepriesen, da sie wesentlich geringere Risiken und Nebenwirkungen für die Angreifer bergen – besonders nach den Desastern im Irak und in Afghanistan. Doch auch diese Kriege sind zerstörerisch und können in den betroffenen Ländern Jahrzehnte des Fortschritts in den Bereichen Gesundheitsversorgung, sanitäre Einrichtungen, Wohnungsbau, Basisinfrastruktur und industrieller Entwicklung zunichte machen. Sie bergen zudem, wie die Geschichte zeigt, stets die Gefahr, in eine offene militärische Konfrontation zu eskalieren. »Die übermäßige Anwendung von Sanktionen«, so der US-amerikanische Historiker Nicholas Mulder, »ist zu einer Hauptquelle internationaler Instabilität geworden. Anstatt die internationalen Rivalitäten zu dämpfen, verschärfen Sanktionen sie jetzt noch.«¹¹
Gegen Völkerrecht und UN-Mehrheit
Schon aufgrund ihrer zwangsläufigen negativen Folgen lehnt die überwiegende Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten eigenmächtige Blockaden grundsätzlich ab. Dies schlägt sich auch seit langem in regelmäßigen Resolutionen sowohl der UN-Vollversammlung als auch des UN-Menschenrechtsrats nieder.¹² Bereits 1991 forderte die UN-Generalversammlung, »dringend wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung einseitiger wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen gegen Entwicklungsländer durch einige Industrieländer zu unterbinden, die das Ziel haben, direkt oder indirekt Zwang auf die souveränen Entscheidungen der von diesen Maßnahmen betroffenen Länder auszuüben«.¹³
Eigenmächtige, nicht von UN-Organen autorisierte Zwangsmaßnahmen, so der Tenor aller späteren Resolutionen, widersprechen den Normen und Grundsätzen für friedliche Beziehungen zwischen Staaten. Sie stellen, wie es zum Beispiel in der UN-Resolution vom Dezember 2013 heißt, »eine eklatante Verletzung der Prinzipien des Völkerrechts sowie der Prinzipien des multilateralen Handelssystems dar«.
Sobald die Blockade des Außenhandels eines Landes das Leben der Bevölkerung als Ganzes bedroht, sind umfassende ökonomische Blockaden zudem auch schwere Menschenrechtsverletzungen. Dies gilt selbst im Fall von Sanktionen, die vom UN-Sicherheitsrat verhängt wurden.
Sie verstoßen dann unter anderem gegen die in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« von 1948 fixierten Rechte. Zu diesen zählen das Recht auf Leben, auf angemessene Ernährung und Gesundheitsversorgung sowie auf soziale Sicherheit. Sie verstoßen auch offensichtlich gegen die verbindlichen Bestimmungen des »Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« von 1966, den alle westlichen Staaten unterzeichnet haben. Dort heißt es schon zu Beginn, in Artikel 1: »In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.« Sobald Blockaden die Versorgung erheblich beeinträchtigen, wie in Afghanistan oder in Syrien, verstoßen sie zudem nach Ansicht vieler Völkerrechtler auch gegen die Genfer Konvention, die das Aushungern der Zivilbevölkerung verbietet. Schließlich sind Blockaden auch eine Form kollektiver Bestrafung, die generell in völligem Gegensatz zu den Grundprinzipien des Rechts steht.
Die UN-Sonderberichterstatterin Alena Douhan geht davon aus, »dass etwa 98 Prozent der heute verhängten einseitigen Sanktionen gegen die internationalen Verpflichtungen der Staaten verstoßen«.¹⁴ Obwohl sie »meist im Namen der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verhängt« werden, würden sie »genau diese Grundsätze, Werte und Normen untergraben«. Die Anwendung einseitiger Zwangsmaßnahmen beeinträchtige »das Recht auf Entwicklung« und verhindere »die Erreichung jedes einzelnen nachhaltigen Entwicklungsziels«. Unter all ihren negativen Auswirkungen, so Douhan weiter, werde besonders das Recht auf Gesundheit beeinträchtigt, insbesondere während der Covid-19-Pandemie, wie sie bei ihren jüngsten Besuchen in Venezuela und anderen Ländern beobachtet habe.
Umfassende Wirtschaftsblockaden sind somit alles andere als zivile, gewaltfreie Alternativen zu militärischen Interventionen. Sie sind schon aus humanitären und völkerrechtlichen Gründen genauso abzulehnen wie militärische Gewalt.
Anmerkungen
1 Gerhard Hafner: Völkerrechtliche Grenzen und Wirksamkeit von Sanktionen gegen Völkerrechtssubjekte, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, ZaöRV 76 (2016), 391–413
2 K. Cashman; C. Kharrazian: US sanctions are designed to kill, Jacobin, 1.9.2019
3 Marc Bossuyt: 0,5 Millionen bis 1,5 Millionen, Nafeez Ahmed: »nach UN-Angaben mehr als 1,7 Millionen«
4 Mark Weisbrot; Jeffrey Sachs, Economic Sanctions as Collective Punishment: The Case of Venezuela, CEPR, 25.4.2019
5 U. S. Sanctions Are Killing Cancer Patients in Iran, Foreign Policy, 14.8.2019
6 Joachim Guilliard, Syrien: »Stiller Tod durch Sanktionen«, Ossietzky (2019), Heft 13
7 UN expert calls for lifting of long-lasting unilateral sanctions »suffocating« Syrian people, OHCHR, 10.11.2022
8 Have US-imposed sanctions ever worked? Interview mit Gary Hufbauer, TRT World, 24.9.2018
9 Marc Bossuyt: The Adverse consequences of economic sanctions on the enjoyment of human rights, Economic and Social Council, E/CN.4/Sub.2/2000/33, 21.6.2000
10 UN-Sonderberichterstatter: Die Sanktionen gegen Venezuela töten viele Menschen, RT, 30.1.2019
11 Nicholas Mulder: A Leftist Foreign Policy Should Reject Economic Sanctions, The Nation, 20.11.2018
12 Überblick: About unilateral coercive measures, OHCHR, vollständige Liste aller diesbzgl. Resolutionen der UN Vollversammlung des UN-Menschenrechtsrats: Special Rapporteur on unilateral coercive measures – Resolutions and decisions, OHCHR
13 UN GA Resolution: Economic measures as a means of political and economic coercion against developing countries 1991, A-RES-46-210, 20.12.1991
14 Interview: Most unilateral sanctions violate international law, says UN expert, Xinhua, 13.7.2022
Parallel zum offiziellen Amerikagipfel, der am Montag unter Ausschluss von Kuba, Nicaragua und Venezuela in Los Angeles eröffnet wurde, veranstalten verschiedene Organisationen aus den USA und lateinamerikanischen Ländern ab diesem Mittwoch einen alternativen »Gipfel der Völker« am selben Ort. Nach Angaben der Veranstalter haben sich dazu bisher mehr als 1.000 Mitglieder von über 200 Gruppen angemeldet. Zu einer Demonstration am Freitag abend würden deutlich mehr Teilnehmer erwartet, erklärte Manolo de los Santos von der US-Bürgerrechtsorganisation »The People’s Forum«, die den Alternativgipfel mit vorbereitet, gegenüber der kubanischen KP-Zeitung Granma.
»Wir wollen die Aufmerksamkeit auf Themen lenken, die für die Völker und die Kämpfe in diesem Land wichtig sind«, führte Stephanie Weatherbee Brito von der progressiven Bewegung »The People’s Summit«, die ebenso Mitveranstalter ist, am Dienstag im kubanischen Onlineportal Cubadebate weiter aus. Sie forderte, dass Washington sich nicht in die Beziehungen und Vorgänge in anderen Ländern einmischen und die US-Regierung »sich statt dessen um die Defizite, Bedürfnisse und Ungerechtigkeiten in ihrem eigenen Land kümmern sollte«. Gleichzeitig gehe es um die Solidarität mit allen antiimperialistischen Kämpfen in Lateinamerika und der Karibik. »Wir verurteilen die Sanktionen gegen Kuba, Venezuela sowie andere progressive Entwicklungen in der Region«, sagte Weatherbee Brito.
Das Portal meldete zudem, dass US-Behörden mindestens 23 Vertretern der kubanischen Zivilgesellschaft die Einreise und Teilnahme an Veranstaltungen des Alternativgipfels verweigerten. Zu den Abgewiesenen gehörten unter anderem Wissenschaftler, Journalisten, Künstler, Gewerkschafter, Frauenrechtlerinnen und Gemeindevertreter.
Auch die als »Marsch gegen den Ausgrenzungsgipfel« bezeichnete Demonstration am Freitag war von der Polizei zunächst verboten, nach Protesten und Verhandlungen mit der Regierung des Bundesstaates dann aber unter Auflagen genehmigt worden. Bei den Veranstaltungen der kommenden Tage gehe es darum, »mit dieser Politik der Ausgrenzung und Verbote zu brechen und einen stärkeren sozialen Zusammenhalt der Volksbewegungen, der Gewerkschaften und der Völker, die auf unserem Kontinent kämpfen, zu erreichen«, so Manolo de los Santos. Ähnliche Ziele verfolgt auch der »Workers’ Summit of the Americas«, der – ebenfalls als Gegenveranstaltung zu dem von Washington ausgerichteten offiziellen Amerikagipfel – von Freitag bis Sonntag in Tijuana, Mexiko, stattfindet.
In den USA wurden die Vorbereitungen von Veranstaltungen der Demokratiebewegung durch einen Angriff von Rechten überschattet, die am Freitag unter dem Schutz örtlicher Polizeikräfte in die Räume des »People’s Forum« in New York eingedrungen waren. Mehr als ein Dutzend Beamte des New York Police Department hätten deren Aktion ohne einzugreifen beobachtet und »uns daran gehindert, die Rechtsextremen aus dem Gebäude zu vertreiben«, erklärte Manolo de los Santos. »In jüngster Zeit hat eine Koalition aus kubanischen und venezolanischen Antikommunisten und anderen Reaktionären ihre Angriffe auf uns verstärkt«, teilte die Organisation in einer Presseerklärung mit. Deren Wut richte sich gegen alles, was das Forum vertrete, »nämlich die sozialistischen Ideen, die Arbeit mit den Gemeinden und die Kämpfe der Arbeiter«, kommentierte Manolo de los Santos und fügte hinzu: »Diese Art von Angriffen ist ein Phänomen, mit dem sich die Linke heute überall auf der Welt auseinandersetzen muss.«
Das Gipfeltreffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist für das Gastgeberland USA zum Fiasko geworden. Eine von US-Präsident Joseph Biden in Los Angeles vorgelegte »gemeinsame Erklärung zur Migration« wurde nur von 20 der 35 Länder des Kontinents gebilligt. Ebenso viele Staaten verurteilten den Ausschluss Kubas, Venezuelas und Nicaraguas von dem Treffen. Von 32 Rednern hätten nur die rechten Präsidenten Brasiliens (Jair Bolsonaro) und Kolumbiens (Iván Duque) die Position Washingtons unterstützt, meldete die kubanische Agentur Prensa Latina. Auf dem »Familienfoto mit Biden« zum Abschluss am Freitag (Ortszeit) fehlte fast die Hälfte der Teilnehmer. Am Ende standen die USA isoliert da.
»Die durch die Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise und die Unruhen in autoritären Ländern haben zu Rekordzahlen bei der Migration geführt«, hatte Biden zuvor das für ihn vor den Zwischenwahlen im November innenpolitisch wichtige Migrationsabkommen begründet. Dessen Ziel sei es, »die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern und legale Arbeitsmigration zu erleichtern«, so der US-Präsident am Freitag. Zugleich räumte Biden ein, mit dem Abkommen auch »eine engere Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten« anzustreben. Zur selben Zeit warnte US-Innenminister Alejandro Mayorkas potentielle Migranten. »Begeben Sie sich nicht auf eine gefährliche Reise, nur um abgeschoben zu werden«, erklärte er im Auslandssender Voice of America. »Wir bauen Programme für Zeitarbeitnehmer aus«, konkretisierte der Politiker die von Biden angekündigten Maßnahmen für eine »legale Arbeitsmigration«.
Kubas Außenminister Bruno Rodríguez sieht darin allerdings »ein Beispiel für eine rassistische, fremdenfeindliche und ausbeuterische Sichtweise«. Bidens Erklärungen gingen »in keiner Weise auf die tatsächlichen Ursachen der Migration ein«, zitierte die KP-Zeitung Granma Rodríguez am Freitag. Dessen Behörde kritisierte parallel dazu auf Twitter, es werde »unmöglich sein, konkrete Ergebnisse bei der Bewältigung der irregulären Migrationsströme zu erzielen, wenn es nicht zum Dialog und zur echten Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Regierungen kommt, um auf ein Problem von globaler Bedeutung zu reagieren«.
Mehrere Redner übten ähnliche Kritik. »Es geht um Menschen, nicht um Ideologien«, mahnte die Premierministerin von Barbados, Mia Amor Mottley. Ihr Amtskollege Philip Davis von den Bahamas erklärte: »Die Blockade gegen unsere kubanischen Nachbarn ist die längste in der Geschichte und trägt direkt zur irregulären Migration bei.« Der Premierminister von St. Lucia, Philip J. Pierre, stellte fest, dass »der amerikanische Kontinent nur gemeinsam aus dieser Krise herauskommen kann«. Chiles Präsident Gabriel Boric wandte sich direkt an Biden: »Wir sollten alle hier sein, aber wir sind nicht hier«, kritisierte er. Mit dem Hinweis, dass Ausgrenzung nur Isolation fördere und keine Ergebnisse bringe, forderte er Biden auf, »die ungerechte und inakzeptable US-Blockade gegen das kubanische Volk ein für allemal zu beenden«. Im Gegensatz zur Mehrheit der Redner griff – neben Biden, Bolsonaro und Duque – der Generalsekretär der von Washington dominierten OAS, Luis Almagro, die politischen Systeme in Kuba, Venezuela und Nicaragua an, die er als »autoritär« und »undemokratisch« bezeichnete.
Der bolivianische Außenminister Rogelio Mayta warf Almagro daraufhin vor, den Putsch gegen Boliviens Präsidenten Evo Morales unterstützt zu haben. Die OAS und ihr Generalsekretär würden die Region destabilisieren, und »Organisationen, die nicht auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen«, müssten überdacht werden. Mexikos Außenminister Marcelo Ebrard erinnerte an den Vorstoß seines Präsidenten im Juli vergangenen Jahres. Dort hatte Andrés Manuel López Obrador auf einem Gipfeltreffen der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (Celac) gefordert, die OAS »durch ein autonomes Gremium zu ersetzen, das kein Lakai von irgend jemandem ist«, und statt dessen »etwas aufzubauen, das mit unserer Geschichte, unserer Realität und unseren Identitäten verbunden ist«.
In der Republik Honduras konnte bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag die linke Kandidatin Xiomara Castro von Ihrer Partei einen deutlichen Sieg davontragen. Nasry Asfura von der abgewählten rechten Nationalen Partei gestand seine Niederlage bereits ein. Doch noch sind nicht alle Stimmen ausgezählt. Machen Sie sich Sorgen, dass die Auszählung der verbleibenden knapp 50 Prozent so langsam vonstatten geht?
Nein, denn wir sind sowohl in der Nationalen Wahlbehörde als auch im Wahlgerichtshof mit Repräsentanten vertreten, ebenso wie die Nationale Partei und die Liberale Partei. Am Dienstag hatte Asfura die Wahlsiegerin Casto zu Hause besucht und ihr zum Erfolg gratuliert. Wir haben keine Zweifel mehr: Sie ist die nächste Präsidentin von Honduras.
Welches Selbstverständnis hat Ihre Partei?
Die Libertad y Refundación, kurz Libre, ist die Antwort von organisierten Teilen der Bevölkerung wie der Regierung von Manuel Zelaya auf den Putsch vom 28. Juli 2009. Im Juni 2011 gegründet, ist unsere Partei nur rund zehn Jahre alt, aber sie hat Strukturen überall im Land. 2013 nahmen wir an der Wahl teil, ebenso 2017. Beide waren von enormem Betrug überschattet. Damals gab es starke Repression, politische Morde, Inhaftierungen. Es ist uns aber gelungen, eine Allianz zu schaffen von linken Kräften bis zur rechten Mitte gegen die Regierung von Juan Orlando Hernández. Hernández und die Nationale Partei sind ein Instrument der Oligarchie und nordamerikanischer Interessen. Libre ist eine progressive, revolutionäre, sozialistisch-demokratische Kraft. Helle Panke Antiquariat_
Was sind Ihre Ziele für die nächsten vier Jahre?
74 Prozent der Menschen in Honduras leben in Armut, 53 Prozent in extremer Armut. Wir haben einen nationalen Notfall in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Sicherheit. Das öffentliche Gesundheitssystem ist kollabiert. Hier werden unsere Schwerpunkte liegen – mit sozialen Programmen und überhaupt dem Versuch, diese Bereiche erst wieder in die Verantwortung staatlicher Institutionen zurückführen. Die Wahlen wurden in öffentlichen Schulen durchgeführt, da konnten wir deren Zustand sehen: kein Wasser, kein Strom, kaputte Dächer. Wir werden versuchen, die staatlichen Bereiche wieder auszubauen und in ihrer Qualität zu verbessern. Wir werden die Finanzbehörden kontrollieren, um sicherzustellen, dass das große Kapital Steuern bezahlt. Und wir müssen die Korruption eindämmen. Im Moment versickert ein Drittel des Staatshaushaltes.
Ihre Partei hat zuletzt öffentlich an im Zuge von Protesten ermordete Genossinnen und Genossen erinnert und sich bei diesen für ihren Einsatz bedankt. Planen Sie eine juristische Aufarbeitung?
Xiomara Castro hat bereits zugesagt, sich für eine Wiedergutmachung für die Familien der Ermordeten einzusetzen, ebenso für andere Opfer der Repression, für die politischen Gefangenen und die Menschen, die gezwungen waren, aus politischen Gründen ins Exil zu gehen. Mit einer juristischen Aufarbeitung ist es im Moment schwierig, bis 2024 sind die zentralen Institutionen wie die Generalstaatsanwaltschaft und der oberste Gerichtshof fest in der Hand von Vertrauten der Nationalen Partei. Erst 2024 kommt es dort turnusgemäß zu Neubesetzungen.
Zu den ersten Gratulanten gehörten die Staatschefs aus Venezuela und Nicaragua, Nicolas Maduro und Daniel Ortega. Wie werden sich die internationalen Beziehungen unter Xiomara Castro entwickeln?
Zunächst müssen wir sehen, wie sich die Beziehungen zu den USA entwickeln – eine Macht in unmittelbarer Nähe zu Honduras, die uns stets wie eine Kolonie behandelt hat. Wir sind aber ein unabhängiges Land. Wir sind an friedlichen, gleichberechtigten Beziehungen interessiert, da haben wir zuletzt positive Signale von der Biden-Regierung erhalten. Wir werden wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen mit China führen. Das bedeutet auch, dass wir die diplomatischen Beziehungen der Regierung der Nationalen Partei zu Taiwan abbrechen werden. Wir sind Teil der lateinamerikanischen Linken und werden intensive Beziehungen zu den linksregierten Ländern führen: zu Kuba, Nicaragua, Venezuela und Bolivien. Wir streben die Einheit Lateinamerikas an.
Gilberto Rios Munguia ist leitendes Mitglied der honduranischen Partei Libertad y Refundación (Libre) und Mitglied der internationalen Kommission